Psychotherapie, Beratung, Gruppenarbeit, Sozialarbeit, Pädagogik, Seelsorge, der Gesundheitsbereich, Wirtschaft, Politik und Kultur sind also, wie schon an anderer Stelle erwähnt, nur einige Beispiele für Gebiete, auf die der personenzentrierte Ansatz als eine Philosophie interpersoneller Beziehungen ausgeweitet und angewendet wird und die ich hier nicht näher erläutern werde.
Stellvertretend dafür eine kleine Graphik (Koch, S.: Psychology: A study of a science;study I: Conceptual and systematic; vol. 3: Formulation of the person and the social context, 1959 / In Quitman, Helmut: Humanistische Psychologie, 1996; Seite 165) Rogers, die zeigt, wie er seinen personenzentrierten Ansatz begreift:
Im Mittelpunkt steht seine Theorie der Therapie, also die Beziehung von Person zu Person (I.). Der Ansatz setzt sich weiter fort in seiner Theorie der Persönlichkeit (II.), der sich voll entfaltenden Persönlichkeit (III.) und seiner Theorie von Anwendungen in weiteren Feldern wie z. B. der Pädagogik und der Sozialen Arbeit (V. bis VIII.).
Dabei scheint mir die Theorie der interpersonellen Beziehungen (IV.), nicht nur aufgrund des Themas meiner Hausarbeit, am wichtigsten.
Rogers selbst geht in seinen letzten Büchern sogar soweit, seinen personenzentrierten Ansatz, auf eine neue Gesellschaft neuer Menschen auszuweiten. Denn ein „ … besseres Verständnis der verschiedenen Gruppen füreinander (ist) für das Überleben unseres Planeten unabdingbar … .“ (Rogers, C. / Rosenberg, R.: Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit 1980; Seite 51)
Überhaupt macht er sich Gedanken zum status quo der Gesellschaften westlicher Staaten, insbesondere der Gesellschaft der USA. Zugleich weist er aber auch auf neue, positive (oder soll man sagen formative?) Tendenzen hin, die ihn in seiner Annahme bestätigen, eine neue menschlichere Gesellschaft, hervorgebracht durch einen neuen Menschen, könnte sich bilden. (s. o. Seite 200ff)
Er ist der Ansicht, daß sich die westliche Kultur im Verfall befindet. Als Symptome (Diese Symptome werde ich nur soweit anführen, insofern sie auch (subjektiv) Gültigkeit für andere Staaten haben und nicht zu sehr auf die USA zugeschnitten sind. Außerdem mache ich darauf aufmerksam, daß dieses Buch als Erstveröffentlichung im Jahre 1977 in Brasilien erschienen ist und das betreffende Kapitel ursprünglich nur zur privaten Verbreitung gedacht war. Man kann – muß aber nicht – dieses Kapitel also lediglich in seinem geschichtlichen Kontext begreifen.) hierfür nennt er:
- Immer mehr Menschen glauben, sich nicht mehr selbst regieren zu können. Sie empfinden, daß ihre Rechte und Pflichten als Bürger nicht mehr ernst genommen werden. Demzufolge werden auch die gewählten Volksvertreter für inkompetent gehalten, was ihre Regierungsfähigkeit betrifft. Daraus folgernd ergibt sich bei ihnen auch ein Mangel an Vertrauen in demokratischen Prozesse als Ganzes.
- Die regierenden Volksvertreter ihrerseits hegen ein tiefes Mißtrauen gegenüber ihren Bürgern.
- Der Staat bewegt sich immer weiter hin zu einem Polizeistaat. Gewalt ist die letzte Autorität. – Macht schafft Recht. Die nationale Machtelite setzt Mittel zur Beruhigung der Massen – und damit zu ihrer Machterhaltung – ein, die gekennzeichnet sind durch kriminelle Verletzung der Privatsphäre, Einschränkung der Meinungsfreiheit, Verhöhnung der Gesetze, Überwachung und Verhaftung Andersdenkender.
- „Macht schafft Recht“ auch in der Außenpolitik: In Ländern wird die Bombardierung von Menschen, ohne Rücksicht auf deren politische als auch deren Menschenrechte, zur Erreichung etwaiger politischer Ziele befohlen. Diese Wege zum Ziel werden als ein Erlangen des Friedens in diesen Ländern proklamiert.
- Die Kirchen haben keinen Einfluß mehr auf die Gesellschaft.
- Das öffentliche Bildungssystem ist veraltet und entspricht nicht mehr den Bedürfnissen der Gesellschaft. Innovationen werden unterdrückt. Die Schulen, da sie nicht mehr auf dem neuesten pädagogischen und didaktischen Stand sind, schaden somit der Persönlichkeitsentwicklung und beeinflussen das kreative Denken zumindest negativ. Sie sind zu Institutionen verkommen, die die Kinder und Jugendlichen lediglich verwahren und von der Welt der Erwachsenen fernhalten.
- Die Familie als Institution ist ebenfalls nicht mehr intakt. Ehen scheitern, Eltern sind sich einander fremd und verstehen ebenso ihre Kinder nicht mehr, die mittlerweile in einer anderen Welt leben.
- Diese Entfremdung der Jugend ist um so beunruhigender, als sich deren Wunsch nach Anerkennung und ihr Weg zum Erreichen dessen, was ihnen zusteht, ausdrückt in Gewalttätigkeit und Kriminalität. (Das Beispiel der Regierung macht Schule.)
- Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. Dies gilt sowohl global gesehen für die reichen und die armen Nationen, als auch gesellschaftlich. Immer weniger Leute verdienen immer mehr Geld, immer mehr arme Leute verdienen (wenn überhaupt) immer weniger Geld.
- Ein Gesundheitswesen, das diesen Namen auch wirklich verdient, gibt es nicht (mehr).
- Wirtschaftskonzerne üben auf die Politik und die Gesellschaft immer mehr Einfluß aus. – Geld regiert die Welt.
Der normale Bürger hat weder in seiner Firma, noch in der Regierung eine echte Vertretung, die sich für seine Belange interessiert. An Möglichkeiten der Partizipation sind also nicht zu denken.
„So haben wir allen Grund zu zweifeln, ob unsere Kultur überleben wird. Manchmal sieht es so aus, als ob es nur noch um die Frage geht, wie wir untergehen, ob wir mit der Atombombe uns selbst umbringen oder ob wir einfach dahinsiechen, bis die Führung von anderen übernommen wird.“ (Rogers, C. / Rosenberg, R.: Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit 1980; Seite 201)
Zusammenfassend könnte man meinen: Entropie allenthalben!
- Aber wie verhält es sich mit der formativen Tendenz, der Syntropie?
- Ist sie nicht in jedem Organismus vorhanden – also auch in einer Gesellschaft, bestehend aus vielen Organismen, den Menschen?
- Müßte nicht auch dieser Organismus zu einer höheren, humaneren Ordnung, zum Guten, nach Vervollkommnung streben?
Rogers verweist auf eindeutige formative Tendenzen in der Gesellschaft, nämlich auf die Entstehung eines neuen Typen von Menschen.
Hierbei sieht er sich bestätigt durch eine Anzahl von Veröffentlichungen aus weiteren wissenschaftlichen Richtungen. Zusammengenommen berufen sie sich ebenfalls auf eine Art formativer Tendenz, auch wenn sie dies nicht explizit ausdrücken. Exemplarisch hierfür zum Einen aus der Sicht der Biologie (Rogers verweist auf Salk, J.: Man unfolding 1972 und The survival of the wisest 1973), die auf die spirituelle und intellektuelle Evolution des Menschen hinweist. Zum Anderen aus der Sicht der Medizin (Rogers verweist auf Weil, A.: The natural mind 1972), die den Vorteil des intuitiven Denkens aus dem Unbewußten und den tieferen Bewußtseinsschichten kommend, gegenüber dem rationalen Denken hervorhebt. Dieses intuitive Denken würde mehr dem natürlichen Geist im Menschen entsprechen.
„So glaube ich auch, daß unter unserer zerfallenen Kultur neues Leben keimt, ja eine neue Revolution sich abzeichnet. Ich sehe diese Revolution nicht durch eine große organisierte Bewegung kommen, nicht durch eine gewehrtragende Armee mit Fahnen, nicht durch Manifeste und Deklarationen, sondern durch die Entstehung eines neuen Menschen, der … durch die … Institutionen nach oben drängt.“ (Rogers, C. / Rosenberg, R.: Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit 1980; Seite 201f)