Die Entstehung des neuen Menschen

Rogers macht klar, daß es sich bei dieser Annahme (seiner Vision) nicht, wie bei sei­nen anderen Arbeiten und Theorien, um empirische Wissenschaft handelt, sondern vielmehr um persönliche Beobachtungen, resultierend aus Zusammenkünften mit di­versen Gruppen und Menschen.

Diese Zusammenkünfte fanden z. B. statt, mit Firmenangestellten, die sich dem Wett­lauf um höhere Gehälter und Gewinnbeteiligung entzogen, um ein „einfacheres“ Le­ben zu führen. Mit jungen Menschen, die die Werte der derzeitigen Kultur ablehn­ten und eine Gegenkultur bildeten. Mit Priestern, Nonnen und Geistlichen, die sich den Dog­men ihrer Kirche widersetzten, um ebenfalls ein freieres Leben zu füh­ren. Mit emanzipierten Frauen, die sich über den gesellschaftlich auferlegten Beschrän­kungen hinwegsetzten. Mit ethnologischen Minderheiten, die sich aus ihrer generati­onsübergreifenden Unterdrückung befreiten. Mit Menschen, die (z. B. in Encounter­gruppen) Erfahrungen gesammelt hatten und in ihrem Leben auch Gefühle und Ge­danken zulie­ßen. In der Therapie, wenn sich die sich helfen lassende Person ent­schied, ein freieres, selbstgesteuertes Leben zu führen.





Sie alle betrachtet er als neue Menschen. Ihnen gemein sind, trotz ihrer Individuali­tät, folgende Eigenschaften (Rogers, C. / Rosenberg, R.: Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit 1980; Seite 204ff / Verglei­che auch Rogers, C.: Der neue Mensch 1981; Seite 177ff):

Der Wunsch nach Authentizität

Der neue Mensch legt größten Wert auf Authentizität. Damit ist gemeint, daß er in der Kommunikation mit anderen Menschen danach strebt, aufrichtig und ehrlich ih­nen ge­genüber zu sein. Dabei spielen für ihn Gefühle, Gesten, Sprache und Körper­bewegung eine gleichrangige Rolle und vermitteln demzufolge die gleiche Botschaft.

Aufgewachsen in einer Kultur der Heuchelei, der doppelbödigen Botschaften, der vor­sätzlichen Täuschung durch Eltern, Lehrer, der Wirtschaft und auch der Politiker, strebt er nun danach, interpersonale Beziehungen herzustellen.

In diesen interpersonalen Beziehungen ist die Kommunikation echt und offen, nicht vorgetäuscht und doppelsinnig. Dabei macht er große Fortschritte im Hinblick auf sei­ne Offenheit etwa sexuellen Beziehungen gegenüber. Er muß kein geheimes Doppell­eben führen. Auch mit seinen Ansichten, was z. B. die politischen, pädagogi­schen, di­daktischen Einstellungen betrifft, „hält er nicht hinterm Berg“. Er tut seine Mei­nung of­fen kund, anstatt nur den Eindruck zu erwecken, er würde, da er still ist, zu­stimmen. Er kann mit Konflikten umgehen. Er kann in Situationen zu seiner Über­zeugung, zu sich selbst stehen, in denen Andere schweigen, sich selbst und ihre Überzeugungen ver­leugnen würden.

In all diesen Beziehungen ist der neue Mensch also echt – er ist er selbst.

Institutionen sind für den Menschen da

Der neue Mensch ist der Überzeugung, daß Institutionen für den Menschen – und nicht umgekehrt – da sind.

Er hat eine Abneigung gegen alle hochstrukturierten, unflexiblen und bürokratischen Einrichtungen. Dies gilt z. B. für die Kirche, die Politik, dem Militär, Wirtschaft und Schule. Selbst die Ehe wird als Institution angesehen. Er sieht nicht ein, daß Regeln der Regeln willen, die Form der Form willen und Befehle der Befehle willen ausge­führt werden müssen. Er stellt ihre formale Struktur in Frage, sieht nicht ein, ihr zu folgen, wenn sie veralteten Wertvorstellungen entsprechen und / oder keinem huma­nen Zweck dient. So stellt er außerdem ihre Starrheit in Frage, denn da er sich stets in ei­nem Prozeß der Veränderung befindet, müßten sich die Institutionen doch eben­falls in ei­nem stetigen Prozeß der Veränderung befinden, wollten sie zum Nutzen des Men­schen sein und nicht stetig den Bedürfnissen des Menschen „hinterher hinken“. Wie verhält sich der neue Mensch nun aber in den Institutionen und ihnen gegen­über und welche Tendenzen sind beispielsweise erkennbar?

Ehe sich diese Menschen einem Diktat unterwerfen, welches ihnen bedeutungslos er­scheint, verlassen z. B. Professoren die Universität, leitende Angestellte die Firma, Priester und Gläubige die Kirche. Sie alle stehen zu ihrer Einstellung und leben sie auch aus. Die Ehe, als Institution betrachtet, wird von vielen Paaren aufgegeben oder nicht als Ritual mit rechtlichen Folgen vollzogen. Denn man glaubt, daß eine ehe­ähnliche Beziehung (homo- oder heterosexuell) nur dann Be­deutung hat, wenn ge­genseitiges Vertrauen und gegenseitige Liebe vorhanden ist, nicht lediglich eine alte Zeremo­nie zur Geltung kommt, „gesegnet“ von Kirche und Staat. Diesen überholten traditio­nellen Regeln mißt man einfach keine Bedeutung mehr bei.

So ist letztendlich eine Tendenz zu beobachten, hin zu kleinen, informellen, nicht hier­archischen Gruppen. Freie Schulen und Kindergärten werden gegründet, ehema­lige leitende Angestellte gründen eigene kleine Unternehmen, Wohngemeinschaften wer­den gegründet. Ihnen ist gemein, daß sie alle in Beziehungen existieren, die di­rekt und unmittelbar, also persönlich und von ihrer Struktur und Autorität her ihren Beziehun­gen untergeordnet sind. Ihr Gemeinschaftssinn, nicht Autorität oder Starr­sinn, ist stark ausgeprägt.

Andere Menschen versuchen, die Institutionen von innen her zu humanisieren, zu re­formieren. So werden beispielsweise sinnlose Regeln mißachtet. Gemeint ist aber auch, daß in Firmen und Fabriken (teilweise unterstützt durch deren Leitung) kleine Teams gebildet werden, in denen versucht wird, gemeinsame Lösungsmöglichkeiten, für Probleme im Produktionsablauf etwa, zu erarbeiten. So können die „niedrigge­stellteren“ Angestellten und Arbeiter auch zeigen, daß sie nicht lediglich ein kleines Rad im Ge­triebe der Institution darstellen, welches nur zu funktionieren hat. Sondern gleich­zeitig drücken sie so aus, daß sie selbstgesteuerte Menschen mit eigenen Ideen und vielleicht sogar besseren Lösungsvorschlägen sind.

Auch in der Politik neigen mittlerweile manche dazu einen humaneren Ansatz (wie et­wa die Partizipation des Bürgers), zu formulieren. Sie sehen ebenfalls ein, daß die In­stitutionen mehr zum Bürger hin geöffnet werden müssen. Dies setzt aber gleich­zeitig voraus, daß die Politiker es auch zulassen, sich selbst nach außen (und nach in­nen) hin zu öffnen. Dies würde bedeuten, daß sich ein authentischer Mensch (nicht Politi­ker) dem Bürger öffnen und so auch die Unterstützung seiner Wähler suchen würde. – Unschwer sich vorzustellen, daß er diese Unterstützung erhalten würde.

Bedeutungslosigkeit materieller Dinge

Der neue Mensch ist zwar in einer Wohlstandsgesellschaft aufgewachsen und ist dem­zufolge auch daran gewöhnt, deren Errungenschaften und Bequemlichkeiten zu nut­zen. Dies alles spielt aber eine sekundäre Rolle in seinem Leben, er ist nicht auf sie an­gewiesen. Geldanhäufung, materielle Statussymbole, und Luxus sie sind nicht seine Haupt­ziele, sie sind ihm gleichgültig. Der neue Mensch verwendet sein Geld für kon­struktive persönliche und soziale Zwecke und versucht so, sein Leben für sich persön­lich sinnvoller zu gestalten.

Nicht-moralisierende Besorgnis

Der neue Mensch hat den Wunsch, sowohl anderen, als auch der Gesellschaft zu hel­fen. Er ist zutiefst mißtrauisch gegenüber „professionellen Helfern“, wie z. B. Psych­iatern und Sozialarbeitern. Diese nehmen zum Einen Geld für ihre Hilfe und zum Ande­ren verstecken sie sich hinter einer professionellen Fassade. Er lehnt die dia­gnostizierende, wertende, interpretative, strafende und auf Vorschriften beruhende Hilfe ab.





Der neue Mensch hingegen, hilft freiwillig und ohne dafür Geld zu verlangen. Er hilft in spontanen Notsituationen. Dabei engagiert er sich, ohne sich aufzudrängen, ohne Moral zu predigen, ohne zu belehren und ohne Vorwürfe zu machen. Der Mensch, dem geholfen wird, wird respektiert.

Der Wunsch nach Intimität

Der neue Mensch sucht nach neuen Formen der Gemeinschaft (außerhalb von Fami­lie und Verwandtschaft), die ihm Nähe, Intimi­tät und Gemeinsamkeit bieten können. In ihnen sucht er neue Formen der Kommunikation, verbal, nonverbal, emotional und in­tellektuell.

Er ist sich bewußt, daß er aufgrund unserer mobilen Gesellschaft nicht lange in ei­ner Gemeinschaft verbringen kann, weshalb er imstande sein muß, schnell intime, kom­munikative und persönliche Kontakte zu knüpfen. Genauso muß er imstande sein, die­se Gemeinschaft ohne heftige Konflikte oder Trauer wieder aufgeben zu können, um ei­ne neue aufzubauen. (Vgl. auch Sennett, R.: Der flexible Mensch 2000 – Hier wird diese weitreichende Problematik unserer kapitalistischen, mobilen Gesellschaft meines Erachtens sehr gut dargestellt.)

Skepsis gegenüber der Wissenschaft

Der neue Mensch hat ein tiefes Mißtrauen gegenüber einer kognitiv orientierten, ab­strahierenden Wis­senschaft und einer Technologie, die sich dieser Wissenschaft be­dient, um dadurch Mensch und Natur zu erobern, zu beherrschen und zu mißbrau­chen.

Er glaubt, daß eine Wissenschaft auch Gefühle mit einbeziehen muß. Diese Wissen­schaft sollte humanistischen Zwecken dienen. Hierfür setzt sich der neue Mensch auch ein. Zudem zeigt er Interesse an „al­ten Wissenschaf­ten“. Aber auch moderne Erkennt­nisse und Techniken zur Erweiterung der Selbstwahrnehmung und zur Ver­haltensänderung werden praktiziert.

Man kann also nicht sagen, daß der neue Mensch dem allgemeinen Fortschritt gegen­über verschlossen wäre. Auch er strebt nach der Wahrheit, der Erkenntnis und der Vervollkommnung. Er ist ebenfalls auf der Suche nach einem Sinn, aber ohne fertige Antworten. Dabei ist er bemüht, immer mehr über seine äußere und innere Welt zu er­forschen und zu erschließen.

Die innere Welt

Der neue Mensch ist ein bewußter Mensch. Er hat den tiefen Wunsch, seine innere Welt zu erforschen. Er ist bereit, sich selbst wahrzunehmen, seine eigenen Gefühle und Stimmungen. Dabei ist er fähig, mit sich selbst frei und ohne Furcht zu kommu­nizieren. Im Gegensatz zu früheren Generationen ist seine Hemmschwelle, eventuel­le Verdrän­gungsprozesse im Bewußtsein auszuloten, viel geringer.

Er ist davon überzeugt, daß es noch viele unentdeckte Bereiche und Möglichkeiten im Menschen gibt, die zu erschließen es einer Offenheit hin zu einer Vielzahl von weite­ren Ge­bieten, Methoden und Haltungen der Bewußtseinserweiterung benötigt.

Im Gleichklang mit der Natur

Der neue Mensch respektiert die Natur und lernt, mit ihr im Gleichklang zu leben. Ihre Eroberung, Verpestung und Zerstörung ist ihm zuwider.

Eine Person in der Entwicklung

Der neue Mensch befindet sich in einem steten spontanen, lebendigen und auch risi­kofreudigen Prozeß. Sein Leben, mit all seinen Vorlieben und Abneigungen, ist abenteu­erlustig und leidenschaftlich. Da er sich also ständig selber weiterentwickelt, kann er auch nicht verstehen und einsehen, daß alles andere um ihn herum beim Al­ten bleiben muß: die gesamten Symptome, die bereits im letzten Kapitel genannt wurden, müssen sich ändern. Dazu will der neue Mensch beitragen – und zwar sofort.

Die innere Autorität

Der neue Mensch vertraut seinen eigenen gewonnenen Erfahrungen und mißtraut so­mit jeder äußeren Autorität. So kann ihn niemand von etwas überzeugen, was er nicht aus seiner eigenen Erfahrung gewonnen hat. So kommt es, daß er sich oft unge­horsam gibt, wenn ihm z. B. Gesetze unvernünftig und ungerecht erscheinen. Die Folgen, die sich für ihn daraus ergeben, nimmt er billigend in Kauf.

Hier weiß sich der neue Mensch nicht allein, gibt es doch tausende, die z. B. den Kriegsdienst verweigern, die für ihr Anliegen auf die Straße gehen. Sein moralisches Urteil, seine Fähigkeit, durch gewonnene Erfahrungen Falsches von Richtigem zu un­terscheiden, dessen ist er sich bewußt – bewußt, seiner inneren Autorität zu ver­trauen.

Rogers ist sich im Klaren darüber, daß nur wenige dieser neuen Menschen die ge­samten oben ge­nannten Eigenschaften auf sich vereinigen und daß es sich dabei auch nur um eine kleine Minder­heit in der gesamten Bevölkerung handelt. Dennoch ist er der Mei­nung, daß diese Personen im Vergleich zu ihrer Anzahl einen unverhältnis­mäßig gro­ßen Ein­fluß für die Gestaltung der Zukunft ausüben könnten.

Auch ist ihm klar, daß, wenn man die Geschichte Revue passieren läßt, dieser neue Mensch eigentlich zum Aussterben verdammt wäre. Kein Typus von Mensch in der Geschichte entsprach diesem neuen Menschenbild, geschweige denn, daß dessen Ei­genschaften jemals vor­herrschten. – Ja, nicht einmal in diese (heutige) Zeit mit ih­rer da­hinsiechenden Kultur paßt er so richtig.

Und eben diese dahinsiechende Kultur (deren Symptome ich bereits in hier be­schrieben ha­be) ist es auch, die der Entwicklung des neuen Men­schen als weiteres Hindernis (noch) gegen­übersteht.

Diese Kultur, diese Gesellschaft in ihrer überwältigen Mehrheit, repräsentiert sich als zutiefst ko­gnitiv und rational in ihrem Denken, repressiv, intolerant und militant An­dersdenkenden gegenüber, ideologisch „verfestigt“ und demzufolge starr bzw. miß­trauisch, was Veränderungen betrifft.

Sie will den Status Quo erhalten, da ihr Veränderungen suspekt sind. Sie lösen nur Angst und Furcht bei ihr aus. Und diese Auslöser müssen nach Möglichkeit unter­drückt und zum Stillschweigen gebracht werden.

Dabei wären neue Lernerfahrungen auch und gerade für eine Gesellschaft, begreift man sie denn (genau wie den einzelnen Menschen) als Organismus, hinsichtlich ih­res Selbst­konzepts dringend und immer wieder notwendig!

Die Integration solcher notwendigen und teilweise auch kritischen Erfahrungen in das Selbstkonzept sind aber (wie bereits weiter oben beschrieben) nur möglich in ei­nem Klima, in dem Authentizität in Verbin­dung mit Empathie, gegenseitigem Ak­zeptieren und Respekt, sowie Vertrauen als Werte vorherrschen. – Werte, die durch den neuen Menschen verkörpert werden.

Und nun hinleitend zum Kernsatz dieser Seiten: Rogers Blick in die Zukunft, hin zum neuen Menschen.